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Wein wird aus Trauben gemacht, deshalb ist er immer ein Naturprodukt...oder? Ganz so einfach ist es leider nicht! Aus den Weinbeeren muss zunächst durch menschliches Zutun Most hergestellt werden, der dann wiederum durch die Zusammenarbeit von Mensch und Hefe zu Wein wird. Er ist also kein klassisches Naturprodukt im eigentlichen Sinne. Und doch berufen sich seit einigen Jahrzehnten immer mehr Winzer:innen darauf, wieder Naturwein bzw. Natural Wine oder Vin Naturel herzustellen.
Was ist Naturwein überhaupt, wie wird er hergestellt und vor allem: warum? Wir werden dir alle offenen Fragen rund um dieses Trendthema beantworten und ganz ohne Filtration deine Unklarheiten beseitigen. Wie beim Naturwein eben.
Natural Wine – Was ist das eigentlich?
Zunächst ist Naturwein erst einmal nichts anderes als möglichst naturnah gekelterter Wein. Grundsätzlich weist diese Art von Wein allerdings die folgenden Kriterien (oder zumindest den Großteil von ihnen) auf:
Ein Naturwein ist
→ spontan vergoren
→ ungeschönt
→ handgemacht
→ unfiltriert
→ nicht / minimal geschwefelt
→ biologisch / biondynamisch produziert
SPONTAN VERGOREN
Unter der Spontanvergärung, auch Sponti genannt, versteht man, dass dem Most keine reinsortigen Hefekulturen von außen hinzugegeben werden, sondern die Gärung komplett von den Hefepilzen in Gang gesetzt wird, die sich ohnehin schon auf der Beerenhaut und im Gärbehälter befinden.
Diese natürlich vorkommenden, wilden Hefen sind zwar schwieriger zu kontrollieren als die Reinzuchthefen aus dem Labor, verleihen dem Wein allerdings eine höhere geschmackliche Komplexität und machen sein Terroir schmeckbar. Als Terroir wird im Allgemeinen die geologische und klimatische Umgebung bezeichnet, in der die Rebe wächst. Bodenbeschaffenheit und -zusammensetzung, Temperatur, Niederschlag, Lichteinfall etc. ergeben zusammengenommen das Terroir eines Weines.
Ob ein Wein spontan vergoren wurde, kannst du in vielen Fällen schon durchs Riechen herausfinden. Der charakteristisch-muffige Geruch wird liebevoll Sponti-Nase oder Sponti-Stinker genannt und erinnert stark an den Weinfehler Böckser. Die Sponti-Nase ist allerdings nicht als Fehler, sondern eher als Charakteristikum spontan vergorener Weine zu sehen. Sollte sie dich zu sehr stören, kannst du sie in den meisten Fällen wegschwenken. Im Kontakt mit Sauerstoff verfliegt sie schnell.
UNGESCHÖNT
Ungeschönt meint, dass der Wein weder mit Vitaminen, noch mit Stabilisatoren oder anderen Zusatzstoffen bearbeitet wird, die seinen Geschmack oder seine Haltbarkeit positiv beeinflussen würden. Diese sollen allein durch den Wein an sich ein hohes Qualitätsniveau erreichen.
HANDGEMACHT
Dass die Technisierung den Weinbau immer weiter automatisiert, ist einer der Gründe für die Entstehung der Naturwein-Bewegung. Dementsprechend sind die meisten Naturals so weit wie möglich handgefertigt. Die Beeren werden handgelesen und nicht durch einen Vollernter eingeholt. Die Pressung erfolgt manuell mithilfe einer Korbpresse oder ganz retro: mit den Füßen. Der Maschineneinsatz wird auch im Keller auf ein Minimum begrenzt. Lediglich die Abfüllung und Etikettierung wird in den allermeisten Fällen automatisiert vorgenommen, da diese Arbeitsschritte kaum bis keinen Einfluss auf den Wein haben.
UNFILTRIERT
Natural Wines sind die einzigen Weine, die in der EU trüb ins Glas kommen dürfen. Wo früher eine Trübung des Weines noch klar auf einen Weinfehler hingewiesen hat, bedeutet sie im Kontext des Naturweins nichts Negatives. Ähnlich wie beim naturtrüben Apfelsaft oder dem Hefeweizen wird der Wein größtenteils durch die Hefe und einige Schwebstoffe aus der Beerenhaut getrübt, die beim Natural Wine nicht herausgefiltert wird.
Eigentlich ist es gang und gäbe, Wein mithilfe tierischer Produkte wie Gelatine und Eiweiß oder der Sedimentation (Feststoff setzt sich von allein unten im Tank/Fass ab) zu filtern und damit zu klären.
Da beim Natural Wine aber so wenig wie möglich eingegriffen werden soll, wird dieser meist nicht gefiltert. Die Trubstoffe sind völlig unschädlich und geben dem Wein viel zusätzlichen Geschmack. Lediglich der meistens erhöhte Gehalt an Histamin kann bei einigen wenigen Menschen zu Problemen führen. Unfiltrierter Wein ist durch die ausbleibende Filtration zwar nicht automatisch vegan, die Chance ist aber höher.
MINIMAL GESCHWEFELT
Selbiges gilt für die Schwefelung von Wein. Diese hat eine hohe Auswirkung auf dessen Aromatik und wird deshalb von vielen Winzer:innen, besonders denen der Naturwein-Bewegung, kritisch gesehen. Schwefel – genauer gesagt Sulfit – ist zur Haltbarmachung vieler Weine unabdingbar und ebenso unschädlich wie Trubstoffe. Wenn die Beeren allerdings bereits am Rebstock so umsorgt werden, dass es ihnen zum Lesezeitpunkt besser nicht gehen könnte, sie also höchste Qualität aufweisen, kann ein daraus hergestellter Wein auch ungeschwefelt abgefüllt werden.
Hierbei müssen die Winzer:innen allerdings große Vorsicht walten lassen. Sobald das Rebgut nicht einwandfrei ist, ein Behälter nicht richtig gereinigt oder ein Rohr nicht ausreichend gespült wurde, kann der Wein binnen kürzester Zeit umkippen. Um das Risiko eines späten Verderbens auf der Flasche zu vermeiden, werden die meisten Naturweine zwar auch geschwefelt, allerdings nur in minimal möglicher Dosis und erst ganz kurz vor der Abfüllung.
Es gibt zudem herausragende Natural Wines, die komplett ohne jegliches Sulfit auskommen. Winzer:innen müssen in jedem Jahr für jeden ihrer Weine die Schwefelung ganz individuell bestimmen. Hat ein Jahrgang ihnen einwandfreies Rebgut beschert, ist der Verzicht auf Sulfit denkbar. Hier lohnt sich das Probieren und vergleichende Verkosten geschwefelter und ungeschwefelter Weine.
BIOLOGISCHER/BIODYNAMISCHER ANBAU
Oftmals gehen Naturwein und biologischer oder sogar biodynamischer Anbau miteinander einher. Um das amtliche EU-Bio-Siegel zu bekommen, muss ein:e Winzer:in die eigenen Weinberge bereits drei Jahre nach ökologischen Kriterien bewirtschaften.
Danach dürfen beispielsweise keine künstlich hergestellten chemischen Pflanzenschutzmittel zum Einsatz kommen, die Mischung unterschiedlicher Herbizide und Pestizide ist streng untersagt, der Maximalwert für Schwefel im Wein ist geringer, gentechnische Bearbeitungen des Rebgutes verboten uvm.
Wer es noch naturnaher – und esoterischer – haben will, geht eine Stufe weiter und setzt auf biodynamischen Weinbau. Diese von Rudolf Steiner eingeführte Strömung besteht größtenteils in der Idee, dass Mensch, Tier, Pflanze und Boden als ein zusammenhängender Organismus zu sehen ist. Alles arbeitet Hand in Hand und ist miteinander verbunden.
Bei dieser Art des Weinbaus werden die Kriterien für Bio-Wein übernommen, verschärft und mit zahlreichen metaphysischen Elementen wie Hornmist oder Orientierung an Mondphasen gekoppelt.
Biodynamik wird von ihren Anhänger:innen als die ethische Spitze der Landwirtschaft gesehen, von den Gegner:innen als unwissenschaftliche Scharlatanerie abgetan. Die positiven Auswirkungen auf Umwelt und Wein sind allerdings kaum zu leugnen.
Im Gegensatz zu Bio- und biodymamischem Wein sind Naturwein, Natural Wine und Vin Naturel keine geschützten Begriffe. Jeder Wein kann theoretisch so genannt werden. Im Umkehrschluss muss allerdings auch ein nach den Prinzipien des Naturals hergestellter Wein nicht als solcher deklariert werden. Da hat jede:r Winzer:in eine eigene Marketingstrategie.
Warum Natural Wine?
Naturwein und der VDP
Der VDP (Verein Deutscher Prädikatsweingüter) gilt als einer der wichtigsten Zusammenschlüsse von Winzer:innen in ganz Europa. Gegründet hat sich dieser einflussreiche Verein im Jahr 1910 über der Frage, wie der Weinbau wieder naturnaher geführt werden kann. Hier war noch keine Rede von hochtechnologisiertem, digital perfektionierten Weinbau mit Drohnen und MRT-Scan. Selbst die Technologisierung durch das Wirtschaftswunder stand noch in den Sternen. Darum ging es dem VDNV (Verband Deutscher Naturweinversteigerer), wie der VDP damals noch hieß, auch nicht.
Ihr Verständnis von Naturwein bestand vor allem darin, einen Wein herzustellen, der nicht durch Zugabe von Zuckerwasser oder den Verschnitt verschiedener Lagen und Anbauzonen verpanscht wird. Der Wein sollte also wieder – ganz natürlich – für sich stehen und nicht geschönt werden. Eine Parallele zur heutigen Naturwein-Bewegung.
Es gab einige Jahre Uneinigkeit darüber, ob der aktuell hergestellte Naturwein daher überhaupt so genannt werden sollte. Um Verwechslungen mit der Gründungsidee des VDP zu vermeiden, wurde er zunächst auch in Deutschland eher Natural Wine oder Vin Naturel genannt. Mittlerweile haben sich die Begriffe jedoch in den allermeisten Fällen zu Synonymen entwickelt, da die damaliegen Ziele der VDP heute erreicht sind. Somit braucht es keine Wortklauberei mehr.
NATURWEIN HEUTE
Jede Bewegung ruft früher oder später eine Gegenbewegung auf den Plan. So auch die Technisierung des Weinbaus in den 1950er- bis 70er-Jahren. Das Wirtschaftswunder hatte Deutschland grundlegend neue Möglichkeiten technischen Fortschritts ermöglicht, den auch die Winzer:innen für sich zu nutzen wussten. Die Folge: Wein wurde (und wird) zunehmend eher maschinell fabriziert als handwerklich gekeltert.
Vom Vollernter, der die Lese erleichtert über ausgefeilte Pumpsysteme im Keller, detaillierte Laboranalysen des Mostes und automatisierter Abfüllung war fortan so gut wie jeder Schritt maschinell zu bewältigen. Die Entwicklung ging und geht immer weiter.
Bereits in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben erste Winzer:innen beschlossen, der zunehmenden Automatisierung ihres Handwerks entgegenzutreten und haben wieder zunehmend auf Handarbeit im Weinbau gesetzt. Seit Beginn der 2010er Jahre und der steigenden Präsenz der Klimakatastrophe und ihrer Auswirkungen rückt die Naturwein-Bewegung immer weiter in den Fokus der Weintrinker:innen und auch der Winzer:innen, die zunehmend ihre Produktion umstellen.
Die Grundfrage lautet: Wie viel Technologie ist wirklich nötig? Es geht den wenigsten Weinmacher:innen um reaktionäre Technik-Verteufelung. Sie wollen nicht zurück zur Natur, sondern wieder mehr Natürlichkeit und Handwerk in ihrer Arbeit. Technik wird da eingesetzt, wo sie nützlich ist und keinen negativen Einfluss auf das Produkt hat. Wo sie sich aber selbst um den Wein kümmern können, ersetzen die Winzer:innen und Kellermeister:innen immer mehr die Maschinen.
WIE SCHMECKT NATURAL WINE?
Kaum ein Trend spaltet die Weinwelt so sehr wie die Naturwein-Bewegung. Von Kritiker:innen als untrinkbar verschrien, hat sich auch eine regelrecht religiös wirkende Anhängerschaft entwickelt. Solche Extreme finden sich im Wein sonst eher selten.
Wie so oft liegt die Wahrheit auch hier in der Mitte: Es gibt (zahlreiche) Naturweine, die – freundlich gesagt – eher sperrig daherkommen, aber mindestens ebenso viele, deren Trinkbarkeit so manch einen konventionellen Wein in den Schatten stellt.
Naturals sind oftmal etwas 'dreckig' in der Nase und am Gaumen, sie ecken an, haben Charakter und Persönlichkeit und sind gerade aufgrund ihrer Unvollkommenheit so interessant. Sie biedern sich nicht an und sind meist eher trocken als halbtrocken oder lieblich. Naturweine sind selten elegant, aber dafür oftmals resolute Speisenbegleiter und können auch wunderbar für sich stehen. Besonders die 'Pet Nat' (Pétillant Naturel) genannten Schaumweine, die als Natural Wines hergestellt werden, machen extrem viel Spaß! Diese überzeugen sogar die wütendsten Kritiker:innen der Bewegung.
Anders ist das bei den 'Orange Wines'. Sie sind der Inbegriff der Spaltung. Die Einen hassen diese wie Rotwein hergestellten Weißweine, die anderen lieben Sie. Normalerweise wird bei der Weißweinherstellung der Traubensaft sofort nach der Pressung abgezogen, sodass er farblos bleibt. Lässt man ihn nun allerdings über einige Stunden im Kontakt mit den Schalen und Stängeln, der so genannten Maische, nimmt auch Most aus grünen Beeren die Farbstoffe aus der Beerenhaut auf. So bekommt er ein orangefarbenes Aussehen und hat im Vergleich zu Weißweinen mehr Gerbstoff, den er aus den Beerenhäuten gelöst hat. Auf diese Weise wird sonst aus roten Beeren Rotwein hergestellt.
Kleiner Trinktipp: Solltest du einen ungefilterten Natural im Regal haben und trinken wollen, wunder dich nicht über die Ablagerungen an der Unterseite der Flasche. Das ist größtenteils die Hefe, die sich abgesetzt hat. Dreh die Flasche vor dem Öffnen ein paar Mal, sodass sich die Hefe wieder im Wein löst. Sie intensiviert den Geschmack des Weines, also nicht in der Flasche versauern lassen! Die Hefe ist auch der Grund, warum Naturals meist weniger Fruchtaroma als konventionelle Weine haben. Sie haben eher würzige und teigige, nicht selten auch laktisch-sahnige Nuancen in der Nase und am Gaumen. Es gilt allerdings dasselbe wie bei regulären Weinen: Probieren geht über Studieren.
Zum Schluss möchten wir noch mit einem hartnäckigen Mythos aufräumen: Vin Naturel könne grundsätzlich nicht gelagert werden. Das ist so pauschal absoluter Quatsch! Es gibt viele Naturweine, die es unter idealen Lagerbedingungen ohne Probleme ein paar Jahre auf der Flasche aushalten und reifen können. Wichtig ist allerdings, genau zu wissen, wie der jeweilige Wein beschaffen ist. Eine leichte Schwefelung oder Kohlensäure im Wein erhöhen seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Oxidation und anderen Gründen für ein Verderben. Auch große Mengen gelöster Hefe helfen dem Wein bei der Lagerfähigkeit.
Wenn dein Natural ein zwei dieser Kriterien erfüllt, steht einer Lagerung für drei bis fünf Jahre, vielleicht länger, nichts im Weg. Diese Entscheidung musst du individuell treffen.
Cheers!